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Harde, Meike: Zufall und Gestaltung. Die Relevanz einer Kontingenzbetrachtung im Produktdesign


Sachsse, Rolf (Prof. Dr.)    Produktdesign    Diplom  2011 SS  

 

Immer wieder geschieht es, dass Zufallsereignisse unsere Sicht auf eine planmäßig ablaufende Welt zu stören versuchen. Unsere einschränkende Überzeugung vom banalen Ursache-Wirkung Prinzip scheitert an so manch einem unvorhergesehenen und plötzlich eintretenden Ereignis. Dass kausale Zusammenhänge aber nicht immer begründbar sind, ist die logische Quintessenz des Zufalls. Und obwohl schon sicher jedem ein einschneidendes Zufallserlebnis widerfahren ist, wird die kontingente Existenz vieler Begebenheiten vergessen oder verdrängt.

Diese Planungswut findet zuletzt auch Einzug in das kreative Schaffen von Designern. Doch sowie der Zufall im Alltag eintritt, macht er auch nicht vor der Entwicklung eines Produktes halt. Der Gestaltungsprozess kann voller Zufälligkeiten sein, ohne dass man es dem Produkt in Form oder Qualität anzumerken vermag. Vielmehr ist es äußerst zufälligen Vorfällen zu verdanken, dass viele Erfindungen und Entdeckungen gemacht werden konnten. Zufälle haben also einen realen Nutzen, mit dessen Hilfe Probleme verschiedenster Themengebiete gelöst werden können. Dieser Ansicht war auch der französische Philosoph Paul Valéry als er schrieb: „Der Zufall bringt gewisse Qualitäten einer Sache zur Erscheinung, die bislang noch schlummerten. Der Zufall ist Wegweiser zu neuen, aber auch zu verpassten Möglichkeiten.“ [1]

 

Die Musik, das Theater, die bildende Kunst arbeiten schon lange erfolgreich mit dem Zufall. Zufall macht einen großen Teil in der Entwicklung der modernen Kunst im 20. Jahrhundert aus. Das Design hingegen kommt, wenn überhaupt, nur schleichend hinterher. Es beruft sich stetig auf Zweckmäßigkeit und Ordnung. Bloß nichts dem Zufall überlassen.

Mit dem Zufall arbeiten heißt aber, sich dem Einfluss äußerer Reize zu öffnen, sich zu Inspiration und Assoziation anregen zu lassen. Das Experiment zu begrüßen und sich im aleatorischen Schaffen auf neue Wege in der Entwurfsarbeit zu begeben.

 

Auslöser der vorgelegten Arbeit war die wiederholte Erfahrung, dass der Zufall den Ausgang eines Projektes entscheidend geprägt hatte. Diese Zufälligkeiten traten häufig schon in der Phase der Ideenfindung auf. Völlig zusammenhangslos entstanden in den widersinnigsten Situation Geistesblitze oder Assoziationen, die qualitativ sehr hoch anzurechnen waren oder gar die ausschlaggebende Idee brachten. Darauf beschränkte sich die Kontingenz keineswegs. Des weiteren trat der Zufall beim Zeichnen, in der Variantenbildung oder im Modellbau in Erscheinung. Man gewöhnte sich schnell an die hilfreichen Dienste des Zufalls und versuchte diese als möglich zu nutzen. Somit stand auch irgendwann die Frage im Raum, ob es möglich sei, den Zufall zu provozieren, um ihn dann zu gebrauchen, wenn er auszubleiben schien.

 

Sicherlich gibt es verschiedene Meinungen zu dem angesprochenen Thema. Möglich ist auch, dass es viele Designer gibt, denen Zufallsereignisse widerfahren, sich dessen aber bisher nicht im klaren waren, aber unbewusst vom Zufall profitierten.

 

Eine sehr anschauliche Anekdote soll deutlich werden lassen, wie eine Zufälligkeit in die Gestaltung eingreifen kann. Für den italienischen Möbelhersteller Cappellini arbeitete der Münchner Designer Konstantin Grcic an dem Modell für einen Stahlrohrstuhl. Dieses wurde, sorgfältig verpackt, nach Italien versandt und wenig später von Grcic selbst bei einer Prototypenkontrolle begutachtet. Als Grcic eintraf, war sein Modell in einem völlig anderen Zustand als noch in Deutschland. Auf dem Weg nach Italien ging der Prototyp zu Bruch und wurde von einem Capellini Mitarbeiter nach eigenen Vorstellungen zusammengefügt. Das ‚neue’ Modell besaß nun einen großen Hebelarm am Fuß, der dem Möbelhersteller gefiel und in dieser Form auch umgesetzt wurde.[2]

 

Die Designtheorie birgt eine enorme Masse interessanter Themen und wissenswerter Untersuchungen. Unzählige Publikationen erzählen von Designgeschichte, verschiedenen Designepochen und deren Absichten, gesellschaftsrelevanter Gestaltung oder dessen Wirkung auf den Konsumenten. Kaum eine Theorie behandelt den Ursprung eines Produktes, dessen Entstehung oder Entwicklung. Der Zufall, der in die Gestaltungsarbeit eingreift, wird gänzlich verschwiegen. Dennoch ist der Blick auf die Entstehung von Gestaltung von großer Wichtigkeit, um ein Produkt verstehen zu können, da dessen Formalästhetik allzu oft einer intuitiven Entscheidung voraus geht.

Die folgenden Ausführungen sollen dieses Loch zu schließen versuchen und dabei sowohl dem Gestalter als auch dem Designinteressierten einen neuen Blinkwinkel eröffnen.

 

Die behandelten Themen beziehen sich nicht nur auf das schon länger dem Experimentellen offenstehenden Möbeldesign, sondern auch auf das sehr zweckorientierte Industriedesign, dem in der Aleatorik bisher kein Platz eingeräumt wurde. Freies Schaffen soll genauso zur Sprache kommen, wie angewandte Gestaltung mit zahlreichen Vorgaben zum Produkt.

Die klassische Entwurfmethode des strukturierten Gestaltens wird infrage gestellt werden, stattdessen soll ein Kompromiss aus zielgerichtetem und intuitivem Entwerfen aufgezeigt sein.

Darüber hinaus steht der Zufall meist im engen Verhältnis zur Innovation, die ein jeder Designer anzustreben versucht. „Ohne Zufall und Einfall gibt es keine Veränderung und Innovation. Zufall ist auch der Katalysator für Kreativität.“, verdeutlichte auch Klaus Mainzer in seiner Veröffentlichung ‚Zufall: wie das Neue in die Welt kommt’.

 

Die Formulierung des Titels Zufall und Gestaltung ist bewusst gewählt, da Zufall sowohl im Gestaltungsprozess als auch in der Gestaltung selbst auftreten kann.

Der zweite Teil der Arbeit bespricht den Zufall im Produkt. Ausgewählte Beispiele gehen offen mit dem Zufallseinfluss um, setzten ihn gar in ihrem Konzept voraus.

Der Designer wird zum Forscher, der im Experiment die Grenzen von Materialien und Fertigungsmethoden auslotet. In Handarbeit geschaffene Produkte erheben den Anspruch des Unikatdesigns und werden nicht selten in einem künstlerischen Bezug in Galerien oder auf Kunstauktionen gehandelt. Der ‚Design Art’ Begriff soll dahingehend besprochen werden.  

Nichtindustrielle Formen üben Kritik an der Warenwelt der Massenproduktion, Designer fühlen sich endlich befreit, auf losgelöster Basis nach eigenen Vorstellungen gestalten zu dürfen. Produkte, des ‚freien Designs’ sprechen den Konsumenten auf eine andere Weise an, als es das Industrieprodukt tut. Verschiedene Unterteilungen werfen einen Blick auf im Materialexperiment entstandene Produkte, auf die Kurzlebigkeit von Konsumgütern, die in zweckentfremdeten Produkten wiederaufleben, auf Objekte, die den Rezipienten in die Gestaltung mit einbeziehen und schließlich auch auf die Existenz der Möglichkeit aus Chaos ein Produkt hervorgehen zu lassen.


[1] Paul Valèri

[2] Winfried Scheuer in: Botsch 2001, S.74

 

 

 







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